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Torsten Wahl: Tränen beim Junimond

Musiker und Fans nahmen im Tempodrom Abschied von Rio Reiser

Rios letztes Album hieß "Zwischen Himmel und Hölle". Und da schwebt er nun, gerade mal 46 geworden. Auf der Bühne im Tempodrom, wo er oft aufgetreten war, erinnerten am Sonntag abend sein Morgenmantel und seine Reisetasche an ihn. Gut fünftausend Fans - manche Agenturen sprachen von 7 000 und 10 000 - wollten Abschied von Rio nehmen, längst nicht alle fanden Platz im Tempodrom.

Nachdem Sonny Thet von Bayon mit seinem Cello den Abend eröffnet hatte, drang noch einmal Rios Stimme durchs Zelt: mit einem Song von Friedrich Hollaender "Wenn ich mir was wünschen dürfte, möcht' ich etwas glücklich sein. Denn wenn ich gar zu glücklich wäre, hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein". Ein anrührender Moment, dem viele folgen sollten. Rios Brüder und Lutz Kerschowski hatten in wenigen Tagen einen Abend auf die Beine gestellt, an dem Rio noch einmal lebendig wurde. Rio, der vielseitige, suchende Künstler, der Polit-Barde, der rotzig-romantische Rocker, aber auch der Musical-Komponist. Moderator Corny Littmann vom Hamburger "Schmidt"-Theater, langjähriger Reiser-Weggefährte, gewährte Einblicke in Reisers Privatleben.

So unterschiedliche Musiker wie die Einstürzenden Neubauten, Engerling, Pe Werner, Lutz Kerschowski, Norbert Leisegang (Keimzeit), Haindling oder Tim Fischer zollten mit ihren Auftritten einem Mann Respekt, der nicht nur eine bestimmte Szene angesprochen hat. Es waren vor allem die Interpretationen von Rios Liedern, die für Stimmung sorgten. Der Berliner Omnibus-Knabenchor schmetterte eine herrliche Version vom "König von Deutschland". Frau Jaschke pries die Geborgenheit der "Vier Wände", Herbert Grönemeyer brachte mit "Übers Meer" einen düsteren Rio-Song, Marianne Rosenberg die Scherben-Nummer "Der Traum ist aus". Als Ulla Meinecke das Reiser-Liebeslied Junimond sang, heulten viele im Zelt Rotz und Wasser. Doch die Songs der Politrocker teilten das Publikum. "Scherben und Family" vereinte frühere Mitstreiter, Freunde und Verwandte. Nach zwei Nummern verlangten die Fans nach Zugaben. Aber die Band wollte wohl keine Kreuzberger Nostalgie-Stimmung bedienen, die Erinnerung an Hausbesetzungen wachrief. Als dann die "Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde" den Schlachtruf "Keine Macht für Niemand" im Stil einer Agitprop-Singegruppe persiflierten, kam Wut auf: "Warum muß der Song so verarscht werden", schrie eine empörte Klassenkämpferin. Als letzter Künstler trat John Banse auf, ergrauter Scherben-Fan der ersten Stunde, und sang im Lagerfeuerklampfen-Stil das Lied "Mein Name ist Mensch". Mit Instrumentalmusik und Kerzenlicht klang die Trauerfeier für den großen Rock-Musiker Rio Reiser aus.


Berliner Zeitung Ressort: Kultur
Datum: 03.09.1996,
Autor: Torsten Wahl

© Berliner Zeitung 05.10.1996


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letzte Änderung: 02.05.1999, marko[at]netz-meister[punkt]de