Susanne Ruhland: Scherben kurz gekittetGedenkkonzert für Rio Reiser im Berliner "Tempodrom"
Berlin (AP) - "Es gibt keine Regel heute abend",
versprach Corny Littmann. "Es kann laut oder leise, tränenreich
oder fröhlich werden." Es wurde alles zusammen. Rund
20 Musiker und Gruppen vom Kinderchor und der Bolschewistischen
Kurkapelle bis zu Herbert Grönemeyer und Marianne Rosenberg
kamen am Sonntag abend ins Berliner "Tempodrom" zu einem
außergewöhnlichen Gedenkkonzert. Mit ihnen nahmen rund
5.000 Fans Abschied von Rio Reiser, der am 20. August mit 46 Jahren
gestorben war. Zu Ehren des Frontmanns, mit dem sie Musikgeschichte
machten, feierten sogar die legendären Ton Steine Scherben
eine kurze Auferstehung.
"Es ist das erste Mal seit elf Jahren, daß die Scherben vor Publikum singen", sagte Rios Bruder Gert Möbius, der das Abschiedskonzert innerhalb weniger Tage improvisiert hatte. "Die Künstler selber hatten den Wunsch, ihn so zu ehren", in Berlin, wo er vor dem Umzug ins Nordfriesische zum Kern der wilden Kreuzberger Szene zählte. Es wurde so, wie die Familie es sich gewünscht hatte: kein Kommerz, keine Hektik, alles friedlich.
Nur einmal drohte die Stimmung umzukippen, als die Scherben und
Family nach zwei Liedern von der abgedunkelten, mit meterhohen
weißen Kerzen ausgeleuchteten Bühne abtraten und zu
keiner Zugabe zu bewegen waren. Für den Auftritt hatten sich
Lanrue, Funky Götzner und Kai Sichtermann Verstärkung
geholt. Bei "Jenseits von Eden" übernahm Alexander
Hacke von den Einstürzenden Neubauten den Gesangspart. "Allein
machen sie dich ein", eines der Lieder, die den Ruf der Scherben
als Politrocker festigten, sang die wogende, dichtgepackte Menschenmenge
fast von allein.
In dem Zirkuszelt hätte kein Bierbecher zu Boden fallen können.
Auch nebenan, wo das Konzert auf Videowand übertragen wurde,
und auf dem Vorplatz standen die Besucher dichtgedrängt.
Bei freiem Eintritt bekamen sie ein Programm zu hören, so
bunt wie ein Musikerleben zwischen den 70ern, als die Fronten
noch klar waren, und heute. "Rio hat ja viel mehr gemacht
als 'nur' Platten", erinnerte Littmann vom Hamburger Schmitt-Theater
als Moderator: in Filmen gespielt, Theatermusik und ein Buch geschrieben.
Kinderchor besingt "König von Deutschland"
"König von Deutschland" heißt es, wie das Lied, mit dem Reiser nach den Scherben einem breiten Publikum bekannt wurde. Dieses Stück, auf dem Abschiedskonzert hinreißend gesungen vom Knabenchor Omnibus, haben auch musikalisch gemäßigte Menschen als Ohrwurm eingefangen, die mit dem Scherben-Politrock so gar nichts am Hut hatten. Selbst der ältere Titel "Laß uns ein Wunder sein", im "Tempodrom" von Marianne Rosenberg dargeboten, war seinerzeit von völlig unverdächtigen Radiosendern gern gespielt worden.
Daß Reiser auch in den neuen Ländern viele Anhänger
hatte, wurde bei den heftig beklatschten Auftritten ostdeutscher
Bands deutlich: Keimzeit zum Beispiel aus der Potsdamer Gegend,
Freygang oder die Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde,
angekündigt als "die letzte Singegruppe aus der SBZ",
die mit "Keine Macht für niemand" kräftig
auf den Putz hauten.
Leiser Abschied
Andere nahmen ganz leise Abschied, wie Herbert Grönemeyer
mit "Übers Meer", Pe Werner mit einem Ringelnatz-Gedicht,
Tim Fischer mit einem Lied von Friedrich Hollaender, der Erz-Bayer
Haindling mit "Ich hab Sehnsucht" ("Mein einziges
hochdeutsches Lied"), die tüttelige Kunstfigur Frau
Jaschke einsam und anrührend mit "Vier Wände".
Als Ulla Meinecke sang "Jetzt tut's nicht mehr weh - es ist
vorbei, bye-bye Junimond", liefen auch angegrauten Vierzigern
hemmungslos die Tränen. Leise enttäuscht war manch alter Häuserkampf-Kämpe. "Da sitzen sie mit ihren Fielmann-Brillen und singen 'Keine Macht für niemand' - aber bloß nicht zu laut", maulte einer, der sich zum Ausgang schob. Eine Hausbesetzung, früher gute Tradition nach jedem Scherben-Auftritt, fand in dieser Nacht nicht statt. Von Susanne Ruhland, Fotos: dpa
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letzte Änderung: 02.05.1999, marko[at]netz-meister[punkt]de |