Blixa Bargeld: Der einzige RockerNachruf
Blixa Bargeld zum Tod von Rio Reiser
Rio Reiser begegnete mir erstmals, als ich Anfang
der siebziger Jahre begann, Musik zu hören. Seine Band "Ton
Steine Scherben" hatte die Platte "Keine Macht für
niemand" herausgebracht, die Initialzündung für
die deutsche Rockmusik.
Es hat sofort funktioniert. Ton Steine Scherben waren
die beste Alternative zu einem schlechten Tag, sie spendeten Kraft
und Identität.
Ton Steine Scherben waren die einzige Band, der es
gelang, die Idee von Rockmusik eins zu eins ins Deutsche zu übertragen.
Die meisten reduzierten sie auf den Begriff "Polit-Band",
aber der direkte Ausdruck eines Lebensgefühls, einer Haltung,
eines Gedankens ist nicht bloß politisch, sondern er ist
zugleich der Sinn von Rockmusik überhaupt.
Ihre Musik war wahr, der Text war deutsch. Und das
Jahre bevor andere sich ganz selbstverständlich das Recht
nahmen, deutsch zu singen. Rio hat es vorgemacht - und er ist
für mich der einzige deutsche Rocksänger geblieben.
Seine musikalischen Vorbilder waren Liverpool, Merseyside,
die Beatles; später, noch viel mehr, die Rolling Stones.
In dieser Tradition schrieb er klassische Songs, nicht nur für
Ton Steine Scherben, sondern auch für freie Theatergruppen
wie das "Kollektiv Rote Rübe" und das erste deutsche
Schwulen-Theater "Brühwarm". Jeden guten Song verstand
er als kleines Universum.
Ton Steine Scherben waren die ersten, die ihre Platten
selbst hergestellt und vertrieben haben, lange bevor der Begriff
"Independent" aufkam und bald zu einer schwammigen Stilbezeichnung
verkam. Sie entzogen sich den Produktionsbedingungen des Musik-Business:
Rio und die Scherben konnten ihre Aufnahmen auch in einer Turnhalle
machen, im Tommi-Weißbecker-Haus oder zu Hause.
Mitte der siebziger Jahre sah und hörte ich
zum erstenmal Ton Steine Scherben auf der Bühne: Ich habe
noch nie jemanden in Deutschland singen gehört und gesehen,
der wie Rio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime
Beziehung, geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen
seiner Zuhörer aufzubauen.
Singen vor Publikum ist eine eigenartige Beschäftigung:
Man kann das Blut, das man den Menschen entzieht, wie ein Vampir
schlucken, oder man kann es verwandeln und zurückgeben.
Rio Reiser strahlte Kraft und Macht aus, die er vom
Publikum bekam, und er gab sie wieder zurück. Charisma ist
eine Fähigkeit, die sich nicht erlernen läßt,
und sie hat nichts mit Image und bloßer Bühnenpräsenz
zu tun. Selbst bei einem banalen Song konnte er irgendein bestimmtes
Wort so singen, daß es einem kalt den Rücken runterlief.
Später lernten wir uns kennen, und ich war öfters
in Fresenhagen, wohin die Scherben 1975 aus Berlin geflüchtet
waren, zu Besuch. Wir haben die Nächte durchgeredet, haben
gequatscht über das Neue Testament und Politik, über
Astrologie und Musik und über das Singen überhaupt.
Vermutlich wäre auch ich nicht so einfach dazu gekommen,
deutsch zu singen, wenn es Rio nicht gegeben hätte.
Ton Steine Scherben waren der vielleicht einzige
gemeinsame Nenner, auf den sich jeder beziehen konnte. Musikalisch
waren ihnen die "Einstürzenden Neubauten" nicht
besonders nahe, aber von der Motivation und Intention her schon.
So tauchten zum Beispiel bei unseren ersten, sehr spontanen Konzerten
immer wieder Scherben-Fragmente auf. Sie brachen aus uns heraus.
1985 lösten sich die Scherben auf, und die Soloplatten,
die Rio Reiser danach machte, mochte ich nur zum Teil. Aber er
selbst hat mal gesagt, daß seine Solokarriere mit Songs
wie "König von Deutschland" nur ein Mittel sei,
um die hochverschuldeten Ton Steine Scherben eines Tages wiederauferstehen
zu lassen. Für mich haben sie sich nie aufgelöst. Sie
haben nur vorübergehend aufgehört zu spielen.
Rios Art zu leben und zu singen war kräftezehrend.
Daß er mit 46 Jahren gestorben ist, erfuhr ich, als ich
in einer Radiosendung saß und gerade ein Interview beendet
hatte. Ich habe nur ein einziges Wort gebrüllt: "Scheiße!"
DER SPIEGEL 35/1996
|
|||
letzte Änderung: 11.05.1999, marko[at]netz-meister[punkt]de |